Kritik an Carl Schurz
Die Kritik an Carl Schurz war stets vom jeweiligen Zeitgeist geprägt: Zu Lebzeiten wurde er angefeindet, weil er zu „liberal“ war. Heute wird ihm „Rassismus“ vorgeworfen.Carl Schurz war bereits zu Lebzeiten mit scharfer Kritik konfrontiert. Oft bezog sie sich auf seine Herkunft. So warf ihm 1860 eine Zeitung vor, er würde im Auftrag der preußischen Regierung deutsche Flüchtlinge ausspionieren. Als er sich für ein Berufsbeamtentum und mehr Naturschutz engagierte, hieß es im Senat, er wolle in den USA „preußische Verhältnisse“ einführen.
Einer der unerbittlichsten Kritiker war der deutschstämmige Zeichner Thomas Nast. Er griff die Politik von Schurz als Senator und Innenminister in unzähligen Karikaturen an.
Der Republikaner Nast nahm Schurz vor allem übel, dass dieser gemeinsam mit anderen liberalen Republikanern eine neue Partei gründete und stellte den Abtrünnigen als Brutus dar.
Einem anderen Republikaner war die Unabhängigkeit von Schurz ebenfalls ein Dorn im Auge. James G. Blaine, ein innerparteilicher Rivale, schrieb 1886 über Schurz: „He aspires to the title of ‘Independent’, and has described his own position as that of a man sitting on a fence, with clean boots, watching carefully which way he may leap to keep out of the mud.”
In seinem Rückblick griff Blaine aber nicht nur die politischen Positionen von Schurz an, sondern diskreditierte diesen auch persönlich: „He has not become rooted and grounded anywhere, has never established a home, is not identified with any community, is not interwoven with the interests of any locality or of any class, has no fixed relation to Church or State, to professional, political, or social life (…).”
Insbesondere für seine Indigenenpolitik musste Carl Schurz von allen Seiten Kritik einstecken. Als seine Amtszeit als Innenminister 1881 endete, veröffentlichte Thomas Nast eine Karikatur, die die Abteilung für „Indianerangelegenheiten“ in völliger Verwüstung zeigt.
Nast hielt Schurz offenbar für einen Idealisten, dessen Vorstellungen sich als nicht praktikabel erwiesen hatten. Die von Schurz betriebene „Realpolitik“ wurde nicht zuletzt von liberal gesinnten Weißen bekämpft, die – wie Schurz – die Situation der Indigenen verbessern wollten. Zu den prominentesten zählte die Schriftstellerin Helen Hunt Jackson, die über Schurz sagte, er sei „der geschickteste Lügner, der ihr je begegnet sei“.
Jackson engagierte sich unter anderem für die umgesiedelten Poncas und startete eine Pressekampagne, die sich in erster Linie gegen den Innenminister richtete. Ihr Buch A Century of Dishonor, das die Behandlung der Indigenen anprangert, enthält auch ein Briefwechsel mit Schurz, in dem sie fordert, er möge rechtliche Schritte der Poncas zur Rückkehr auf ihr ursprüngliches Land unterstützen, während Schurz empfiehlt, sie solle sich lieber auf Schulen für indigene Kinder konzentrieren.
Im April 2022 veröffentlichte das Schweizer Internetportal „Geschichte der Gegenwart“ einen Beitrag von Julius Wilm mit dem Titel „Jenseits der Legende vom guten Deutschen: Carl Schurz in den USA“. Darin schreibt der Leipziger Historiker, Schurz habe Anteil gehabt an der „Etablierung der Rassentrennung in den US-Südstaaten und dem versuchten Ethnozid an indigenen Gemeinschaften“.
Konkret warf er Schurz vor, er habe sich vom „Antisklaverei-Aktivisten zum paternalistisch argumentierenden Rassisten“ entwickelt und „die Etablierung des Systems der weißen Vorherrschaft (…) zuvor jahrelang gefördert“. Bezüglich der Indigenen habe er auf Schritte gesetzt, „die eine Assimilation erzwingen sollten“, wie zum Beispiel „die Verschickung indigener Kinder zur Umerziehung in Internate“. Als Innenminister habe Schurz am Aufbau „dieser brutalen Assimilierungsanstalten (…) einen herausragenden, wenn nicht sogar einen entscheidenden Anteil“ gehabt.
„I am a product of these horrific assimilation policies.”
US-Innenministerin Deb Haaland, Washington Post, 11. Juni 2021
Wilm verwies auf einen Gastbeitrag, den US-Innenministerin Deb Haaland 2021 in der Washington Post veröffentlichte. „I am a product of these horrific assimilation policies”, schrieb die Politikerin darin. „My maternal grandparents were stolen from their families when they were only 8 years old and were forced to live away from their parents, culture and communities until they were 13.“ Weil viele dieser Internate vom Innenministerium betrieben worden seien, das sie nun leite, sehe sie es als eine wichtige Aufgabe an, „to bring this trauma to light“.
Deb Haaland erwähnt ihren Amtsvorgänger Carl Schurz nicht, doch schreibt sie, man habe ihren Urgroßvater in die Carlisle Indian School in Pennsylvania gebracht, die 1879 während Schurz‘ Amtszeit gegründet wurde. „Kill the Indian, save the man", lautete das Motto des Schulgründers Richard Henry Pratt.
Nach ihrem Amtsantritt veranlasste die US-Innenministerin eine Untersuchung der insgesamt mehr als 400 Internate für indigene Kinder, die im Zeitraum 1819 bis 1969 in verschiedenen Bundesstaaten existierten. Der 2022 erschienene Bericht stellte unter anderem fest, dass die Schulen überbelegt waren, physischer, sexueller und psychischer Missbrauch weit verbreitet war und dass die Kinder keine ausreichende Ernährung und Gesundheitsversorgung erhielten.
In Deutschland löste der Beitrag von Julius Wilm eine Debatte über die Haltung von Schurz zu den Südstaaten in den 1870er-Jahren und seine Indigenenpolitik als Innenminister aus. In beiden Fällen sind sich die Historiker im Wesentlichen darin einig, dass Carl Schurz – aus heutiger Sicht betrachtet – dabei Fehler machte. Strittig ist, wie diese zu bewerten sind und welche Konsequenzen sich daraus für die Erinnerungspolitik ergeben.
In einer Antwort auf den Beitrag von Wilm warf der Freiburger Anglist Wolfgang Hochbruck dem Leipziger Historiker vor, „hart am Rande des Bösartigen“ zu argumentieren. Es gehe Wilm „nicht nur darum, Schurz Fehler nachzuweisen – was durchaus möglich ist und nicht bestritten werden soll – sondern er unterstellt böse Absicht“. Das gehe zu weit, so Hochbruck: „Wilm verkürzt, verallgemeinert und interpretiert (…) in einer Art und Weise, die dem Gegenstand unangemessen und stellenweise peinlich ist.“ Es sei unumstritten, „dass die Republikaner die afrikamerikanische Bevölkerung im Süden aus heutiger Sicht in vielerlei Hinsicht im Stich ließen“, so Hochbruck, „dass dies Schurz zu verdanken sei, ist so schlicht falsch“. Schurz habe zu viel Vertrauen in die demokratischen Kräfte in den USA gehabt und habe mit seiner Hoffnung letztlich falsch gelegen. Zudem sei das „System der Rassentrennung“ erst 1896 etabliert worden.
Dagegen schloss sich die Historikerin Hedwig Richter in einem Beitrag für die Bundeszentrale für politische Bildung der Kritik von Wilm an: „Schurz unterstützte den Abzug der Bundestruppen aus den Südstaaten, und nahm damit in Kauf, die ehemaligen Sklaven und Sklavinnen ihrem Schicksal und der sich etablierenden Apartheit zu überlassen.“ Bei der indigenen Bevölkerung habe Carl Schurz allerdings auf Assimilation gesetzt: „Als Innenminister führte er die Politik fort, die first nations in der amerikanischen Gesellschaft aufgehen zu lassen, und er tat alles, um ihre Kultur, die als primitiv und unrepublikanisch galt, zu zerstören“, so Richter. „Wie viele seiner Zeitgenossen (…) sah Schurz seine Politik als konsequente Weiterführung seines Kampfes für Demokratie und soziale Gerechtigkeit.“
Hochbruck betonte hingegen, man könne in den 1870er-Jahren keine „an heutigen Standards ausgerichtete, ethnodivers-multikulturelle Politik“ erwarten. Zum damaligen Zeitpunkt seien die Ansichten von Carl Schurz zur Indigenenpolitik vielmehr ausgesprochen progressiv gewesen: „Die Alternative zu Schurz‘ Integrationsprogrammen (…) war die physische Auslöschung der indigenen Völker, und es gab eine Menge weißer Nationalisten, die das bevorzugt hätten.“
Entsprechend unterschiedlich sind die Ansichten der Autoren, wie an Carl Schurz erinnert werden sollte. Während Wilm die Ansicht vertritt, Schurz werde in Deutschland zu Unrecht als „Held und demokratisches Vorbild“ verehrt, bestreitet Hochbruck, dass es die „Legende vom guten Deutschen“ überhaupt gibt. Richter kommt zu dem Schluss: „Es ist gewiss sinnvoll, an Schurz als an einen der Väter der deutschen Demokratie zu erinnern. Aber dabei sollten seine rassistischen Einstellungen nicht ausgeblendet oder als überraschende Abirrung interpretiert werden.“
Die Kontroverse führte nicht zuletzt dazu, dass das Bundespräsidialamt die geplante Aufstellung einer Schurz-Büste im Schloss Bellevue im Jahr 2022 bis auf Weiteres verschob.
In seiner 2024 erschienenen Publikation Ein deutscher Revolutionär im Amt, versuchte Julius Wilm anhand von Quellen zu zeigen, dass Carl Schurz am Niedergang der Minderheitenrechte in den USA der 1870er-Jahre beteiligt war.