Politische Anliegen von Carl Schurz
Die republikanischen Ideale, die Carl Schurz aus Europa mitbrachte, prägten sein politisches Engagement in den USA. Er schätzte die demokratischen Verhältnisse in seiner neuen Heimat, sah aber an einigen Punkten noch Verbesserungsbedarf.In den mehr als 50 Jahren, die Carl Schurz in den USA politisch tätig war, beschäftigten ihn bestimmte Themen besonders intensiv. Er selbst spricht in seinen Lebenserinnerungen von „Leitmotiven“, zum Beispiel in Zusammenhang mit seiner Rede True Americanism, die er im April 1859 in Boston hielt: „Ich (…) betonte hauptsächlich den Gedanken, der während meiner ganzen öffentlichen Laufbahn in Amerika mein Leitmotiv gewesen ist: die wichtige Stellung, die diese Republik in dem Fortschritt der Menschheit zu demokratischen Regierungsformen einnimmt.“
Der Herausgeber der Lebenserinnerungen, Daniel Göske, hat darauf hingewiesen, dass nicht nur Idealismus, sondern auch Pragmatismus kennzeichnend für Schurz war: „Seine republikanischen Ideale, seine fast unbändige Lust am politischen Engagement sind der Motor seiner Aktivität. Immer wieder weist er auf zentrale Gedanken und ‚Leitmotive‘ seiner in Europa gewachsenen und an der politischen Praxis Amerikas geschulten Überzeugungen hin.“ Bereits die Briefe des jüngeren Schurz‘ würden deutlich machen, „dass er schon früh – und im Gegensatz zu anderen deutschen Revolutionären wie Ruge, Marx oder Kinkel – einen dezidiert pragmatischen Zugriff auf die Politik bevorzugte“.
Und der Schriftsteller Uwe Timm konstatiert im Vorwort der Lebenserinnerungen: „Er hat stets einen klaren Blick für die gesellschaftlichen Verhältnisse gehabt, sie genau analysiert, sich vor Wunschdenken gehütet und im Politischen immer das Mögliche vom Wünschbaren unterschieden.“
Nicht zuletzt brachte er seine „Leitmotive“ den jeweiligen Präsidenten nahe: „Es gab in fünf Jahrzehnten kaum einen amerikanischen Präsidenten, dem er nicht Ratschläge für Wahlkampf und Antrittsrede erteilt hätte, Ratschläge, die zumeist willkommen waren, in jedem Falle aber sehr ernst genommen wurden“, schreibt der Historiker Rudolf Geiger.
Die längste Zeit wirkte er jedoch als Redner und Publizist. Zu einer Zeit, in der es außer Zeitungen keine Massenmedien gab, warb er bei unzähligen Auftritten im ganzen Land für seine zentralen Anliegen und trug damit nicht zuletzt zur politischen Bildung bei.
„Leute, die gar nicht an solche Dinge gewöhnt waren, [werden] sich in die demokratische Selbstregierung finden, wie die Ente ins Wasser.“
Carl Schurz
In seiner ersten Rede in den USA, die Schurz 1856 vor Deutsch-Amerikanern in Jefferson hielt, sprach er über die „Sklavereifrage“, pries aber vor allem die Vorzüge der Demokratie. In seiner Argumentation sind die Erfahrungen mit der gescheiterten Revolution von 1848/49 in Europa noch deutlich spürbar: „Fremdgeborene, die in ihren Geburtsländern gewohnt waren, zu ihrer Regierung aufzublicken, wie zu einem höheren Wesen, das von der Weltenordnung eingesetzt war“, würden sich „in die demokratische Selbstregierung finden, wie die Ente ins Wasser“.
Vehement verteidigte Schurz demokratische Grundrechte, für die er bereits in der Revolution gekämpft hatte, wie zum Beispiel die Meinungs- und Pressefreiheit. Dabei wurde er im Präsidentschaftswahlkampf für Abraham Lincoln erstmals selbst Opfer „politischer Angriffe und Verleumdung“, wie er in seinen Memoiren berichtet. Demnach warf ihm eine Zeitung vor, „im Solde der preußischen Regierung zu stehen, um das Treiben der deutschen Flüchtlinge in Amerika auszuspionieren“.
Dennoch warnte er vor einer „Fesselung“ der Pressefreiheit: „Es ist unendlich wichtiger, daß in einer freien Regierung, welche auf der wohlunterrichteten öffentlichen Meinung beruhen muß, die berechtigte Kritik den weitesten und möglichst ungehinderten Ausdruck findet, als daß eine unberechtigte Kritik eingeschränkt und bestraft wird.“ Auf die kritischen Karikaturen des Zeichners Thomas Nast reagierte Schurz später allerdings dünnhäutig. In einem persönlichen Gespräch drohte er dem Zeichner offenbar, ihn öffentlich anzugreifen.
„I have never taken any part in the Woman Suffrage movement.“
Carl Schurz, Brief an Thomas Wentworth Higginson, 28. November 1881
Das Wahlrecht gehörte für Schurz ebenfalls zu den unabdingbaren Rechten. Jahrelang forderte er, freigelassene Sklaven müssten das Wahlrecht bekommen, gleiches forderte er später für Indigene. Allerdings bezog er sich dabei immer nur auf Männer. Die Forderung nach Frauenwahlrecht stellte er zu keinem Zeitpunkt. Im Gegenteil: Als er 1881 gebeten wurde, eine Rede zum Frauenwahlrecht zu halten, lehnte er dies mit der Begründung ab: „I have never taken any part in the Woman Suffrage movement.“ In einem Artikel zum Frauenwahlrecht, der am 16. Juni 1894 in Harper's Weekly erschien, argumentierte Schurz, das Land habe schon genug Probleme, die man nicht noch durch das Frauenwahlrecht vergrößern müsse.
“He who does not honor the old Fatherland is not worthy of the new. He who does not revere his old mother will not truly love his bride.”
Carl Schurz, Rede in Chicago, 15. Juni 1893
Als Deutsch-Amerikaner machte sich Schurz viele Gedanken zur Identität von Migranten – „Fremdgeborenen“, wie er sie nannte – und ihrer Loyalität zur alten und neuen Heimat. Er forderte, dass alle Einwanderer die englische Sprache beherrschen müssten, rechtfertigte jedoch die Existenz deutschsprachiger Zeitungen damit, dass es auch Informationen in der Muttersprache geben müsse.
Er betonte immer wieder, die Deutsch-Amerikaner seien Patrioten, und verwies darauf, dass sie im Bürgerkrieg das größte nationale Freiwilligenkontingent in der Nordstaatenarmee gestellt hätten. „Es mag unwahrscheinlich und fast lächerlich anmaßend klingen, daß fremdgeborene amerikanische Bürger feuriger, aufrichtiger in ihrem amerikanischen Patriotismus sein können, als viele Eingeborene es sind, und doch haben meine Erfahrungen mir das bestätigt“, schreibt Schurz in seinen Erinnerungen.
Seiner Ansicht nach wurde dieser Patriotismus auch nicht durch eine enge Bindung zum Herkunftsland beeinträchtigt. Es gelte vielmehr: „Wer seine alte Mutter nicht ehrt, wird auch seine Braut nicht aufrichtig lieben“, so Schurz in einer Rede bei der Weltausstellung in Chicago 1893.
Nach Einschätzung des Historikers Hans L. Trefousse leistete Schurz einen bedeutenden Beitrag, indem er den Deutsch-Amerikanern zeigte, „how to merge both their German and American heritage in a combination of what we today would call the ‚melting pot‘ and ethnic pluralism”.
„Ich sah, wie die entscheidende Schlacht immer näher rückte, und ich fühlte den unwiderstehlichen Drang, mich vorzubereiten, um an dem Kampfe, wenn auch in noch so bescheidener Weise, teilzunehmen.“
Carl Schurz
Bei seinem ersten Besuch in Washington verfolgte der 25-jährige Carl Schurz im Senat die Debatte über die Kansas-Nebraska-Bill, die eine eindeutige Verurteilung der Sklaverei vermied. Er sah die „entscheidende Schlacht“ immer näher rücken, und als er kurze Zeit später nach London reiste, ließ ihm die Frage keine Ruhe: „Wie sehnte ich mich danach, ‚nach Hause‘ zurückzukehren, um an dem großen Kampfe gegen die Sklaverei, diesem einzigen Flecken auf dem Wappenschild der Republik, teilzunehmen.“
Carl Schurz hielt in den folgenden Jahren nicht nur viele große Reden gegen die Sklaverei, sondern gründete auch im Februar 1862 mit Gleichgesinnten in New York die Emancipation Society. Inzwischen waren einige Südstaaten, die die Sklaverei beibehalten wollten, aus der Union ausgetreten. Der Bürgerkrieg tobte. In Absprache mit Präsident Abraham Lincoln plädierte Schurz bei einer Versammlung der Emancipation Society im März für „Versöhnung durch Emanzipation“. Den loyalen Sklavenstaaten und Sklavenhaltern, die sich auf einen Modus der Sklavenbefreiung einließen, solle eine Entschädigung angeboten werden.
Lincoln machte ein entsprechendes Angebot. Als es jedoch von keinem sklavenhaltenden Staat aufgegriffen wurde, nahm der Präsident eine radikalere Haltung ein, die Schurz befürwortete: Im September 1862 veröffentlichte Lincoln seine „Verordnung für die allgemeine Befreiung der Sklaven (…), welche seinen Namen in der Weltgeschichte vor allem anderen unsterblich“ machte, wie Schurz in seinen Memoiren schreibt.
Im Wahlkampf für Lincolns Wiederwahl 1864 – der Bürgerkrieg war noch nicht zu Ende – hielt Schurz mehrfach seine Rede „Die Sklaverei als Verrat“, in der er die Sklaverei als Verbrechen gegen die Gerechtigkeit, Freiheit und Zivilisation sowie als Verrat an künftigen Generationen brandmarkte. Endgültig verboten wurde die Sklaverei im Februar 1865 durch einen Verfassungszusatz.
Die Situation in den Südstaaten beschäftigte Carl Schurz aber noch viele weitere Jahre. Es begann die Ära, die als „Reconstruction“ bezeichnet wird. Im Auftrag von Lincolns Nachfolger Andrew Johnson unternahm er 1865 eine Inspektionsreise durch den Süden und erstellte einen Bericht, in dem er auf die fortgesetzten Gewaltakte hinwies, die Weiße an Schwarzen verübten. Schurz empfahl unter anderem, die militärische Präsenz aufrecht zu erhalten, und das Wahlrecht für (männliche) Schwarze.
“In advising a general amnesty it is not merely for the rebels I plead. (…) I plead also for the colored people of the South, whose path will be smoothed by a measure calculated to assuage some of the prejudices and to disarm some of the bitterness which still confront them.“
Carl Schurz, Rede im Senat, 30. Januar 1872
Als Senator vollzog Schurz ab 1870 eine Kehrtwende, was die Beurteilung der Lage in den Südstaaten betraf. Er forderte ein Ende der „Reconstruction“ und lehnte ein Gesetz gegen den Ku-Klux-Klan ab, weil er dessen Auswirkungen für schädlicher hielt als das Übel selbst. Stattdessen empfahl er eine generelle Amnestie für die ehemaligen Rebellen, weil dies seiner Ansicht nach Vorurteile abbauen und zu einer Aussöhnung von Schwarzen und Weißen führen könne.
In einer Rede im Senat am 30. Januar 1872 argumentierte er, eine großzügige Haltung des Siegers würde dem Rassismus der Weißen den Boden entziehen und verwies zur Begründung auf die Situation in Deutschland und die 1848er-Revolutionäre: „In the Parliament of Germany how many men are there sitting who were once what you would call fugitives from justice, exiles on account of their revolutionary acts, now admitted to the great council of the nation in the fullness of their rights and privileges – and, mark you, without having been asked to abjure the opinions they formerly held.”
Nach Ansicht des Schurz-Biografen Hans L. Trefousse ließ der Kämpfer gegen die Sklaverei die Schwarzen damit im Stich. Schurz‘ Plädoyer für Versöhnung statt Repression habe die Grausamkeiten des Ku-Klux-Klans ignoriert und den Opfern nicht geholfen. Noch härter ist das Urteil des Historikers Julius Wilm. Schurz habe sich „eindeutig gegen die Sicherung gleicher Rechte gewandt“ und stattdessen eine „weiße Vorherrschaft“ favorisiert. Wilm verweist auf schwarze Kritiker wie den Politiker Frederick Douglass, der Schurz in einem Artikel „Abtrünnigkeit“ vorwarf.
Um die Jahrhundertwende fand Schurz zu seiner alten radikalen Haltung zurück: An seinen Freund Moorfield Storey schrieb er 1903: „We shall have to fight the old anti-slavery battle over again.“ In seinem Artikel „Can the South Solve the Negro Problem?”, der im Januar 1904 im McClure’s Magazin erschien, verurteilte Schurz den zunehmenden Rassismus aufs Schärfste und forderte unter anderem eine systematische Bildungskampagne, um ihn auszumerzen.
Schon bald nach seiner Ankunft in den USA erfuhr Carl Schurz, dass in den USA ein „Beutesystem“ herrschte, was bedeutete, dass alle öffentlichen Ämter nach jeder Wahl neu besetzt wurden. Die siegreiche Partei betrachtete Zehntausende von Dienststellen als „Beute“ und vergab sie an Parteianhänger, Verwandte und Freunde – völlig unabhängig von deren Qualifikation. Dies sei eine „erschreckende Enthüllung“ gewesen, schreibt Schurz in seinen Memoiren. Später wurde der Kampf gegen das „Beutesystem“ ein zentrales politisches Anliegen von ihm.
Der Kampf um die „Civil Service Reform“ zog sich jedoch mehr als 20 Jahre hin, konstatiert der Schurz-Biograf Rudolf Geiger: „Es ging den Beteiligten um weit mehr als die bloße Veränderung einer Besonderheit der öffentlichen Verwaltung. Es ging ihnen um die Grundsatzfrage der politischen Moral, deren Bedeutung ihrer Meinung nach alle anderen Reformvorhaben überragte. Sie wurde auf derselben Ebene gesehen wie einst die Sklavereifrage oder die Frage der Einheit der Union.“
Schurz nutzte seine politischen Ämter, um eine Reform voranzutreiben. Als Senator brachte er einen Gesetzentwurf ein, dem allerdings kein Erfolg beschieden war. Und auch als Innenminister konnte er 1877 nur „eine relativ unverbindliche, regierungsinterne Regelung durchsetzen“, so der Historiker Daniel Göske. Doch griff Schurz zumindest in der notorisch korrupten Abteilung für „Indianerangelegenheiten“ durch, die ihm unterstand. Erst 1883 wurde schließlich ein Gesetz (Pendleton Act) verabschiedet, das die politische Ämterpatronage auf Bundesebene verbot.
„I observed enterprising timber thieves not merely stealing trees, but stealing whole forests.“
Carl Schurz, Rede am 15. Oktober 1889
Das älteste Leitmotiv von Carl Schurz war die Liebe zum Wald, denn sie ging auf seine Kindheitserfahrungen in Liblar zurück. „Oft im späteren Leben bei dem Anblick einer schönen Landschaft oder des Meeres habe ich mir die Frage gestellt, ob nicht das, was ich im Walde gesehen, doch schöner war, als dies alles“, schreibt er in seinen Lebenserinnerungen.
Der Schutz der amerikanischen Wälder beschäftigte ihn insbesondere als Innenminister. „Schurz stellte bei seinen Reisen im Lande fest, dass der Raubbau am Wald geradezu groteske Formen angenommen hatte, und er befürchtete, dass es den Wäldern schließlich ergehen würde wie den Büffelherden, die innerhalb weniger Jahre ausgerottet waren“, schreibt Rudolf Geiger.
Schurz beobachtete, dass Holzdiebe nicht nur Bäume, sondern ganze Wälder stahlen, die dem Staat gehörten. Das gestohlene Holz wurde von Hunderten Sägewerken verarbeitet und teilweise ins Ausland exportiert. Siedler und Goldsucher betrieben rücksichtslosen Raubbau in den Wäldern, Touristen und Jäger verursachten mit ihren Lagerfeuern gigantische Waldbrände. Schurz schilderte seine Erfahrungen als Innenminister ausführlich in einer Rede, die er am 15. Oktober 1889 vor der American Forestry Association hielt.
Seine Bemühungen, zumindest den kommerziellen Diebstahl zu unterbinden und die Täter strafrechtlich zu verfolgen, seien auf massiven Widerstand gestoßen, so Schurz in seiner Rede rückblickend: „I was pelted with telegraphic despatches from the regions most concerned.“ Und im Kongress habe er für seine Gesetzentwürfe nur Hohn und Spott geerntet: „You should have witnessed the sneers at the outlandish notions of this ‚foreigner‘ in the Interior Department.“
Es gelang Schurz zwar, erste Waldschutzgebiete einzurichten, und 1891 – zehn Jahre nach dem Ende seiner Amtszeit – wurde tatsächlich ein Gesetz zum Schutz der Wälder erlassen. Doch schien ihm das alles nicht ausreichend. 1897 griff er das Thema in einem Artikel in Harper’s Weekly noch einmal auf, und im Februar 1899 stellte er in einem Brief an Herbert Welsh fest, es habe sich zwar etwas getan, doch „how effective it is, I do not know“.