Verfolgung, Illegalität und frühes europäisches Exil
Nach dem Ende der Revolution von 1848/49 lebte Carl Schurz als politischer Flüchtling in der Schweiz, in Frankreich und England. Die Befreiung seines Freundes Gottfried Kinkel aus dem Zuchthaus in Spandau machte ihn schlagartig bekannt.Im Juli 1849 war Carl Schurz auf abenteuerliche Weise die Flucht aus der von den Preußen belagerten Festung Rastatt gelungen. Er war über den Rhein nach Frankreich gelangt, wollte aber weiter in die Schweiz, wo sich bereits andere Flüchtlinge wie zum Beispiel Fritz und Mathilde Franziska Anneke befanden. Mit dem Zug fuhr er von Straßburg in Richtung Basel, überquerte die Grenze zu Fuß auf Schmugglerpfaden und nahm dann eine Kutsche nach Zürich. Dort traf er am „Halteplatz des Postwagens“ am 11. August unter anderem die Annekes wieder.
Schurz wurde schnell bewusst, dass er nun ein völlig mittelloser politischer Flüchtling war. An seine Eltern hatte er am 31. Juli 1849 geschrieben: „Ich weiß, daß ich nicht untergehen werde in dem Schlamm fauler Unthätigkeit, in dem die meisten Flüchtlinge hier versinken.“ Um Geld zu verdienen, wollte er sein Tagebuch über die badische Revolution, „besonders die Übergabe von Rastatt“ veröffentlichen. Aus dem Vorhaben wurde nichts, doch schrieb er gelegentlich Artikel für die Westdeutsche Zeitung in Köln, die von seinem Freund Hermann Becker geleitet wurde.
In seinen Lebenserinnerungen bekennt Schurz, wie viele andere habe er damals „die Illusion über das Bevorstehen einer neuen revolutionären Erhebung treuherzig“ geteilt: „Niemand übt die Kunst, sich selbst mit den windigsten Illusionen zu täuschen, so geschickt, geschäftsmäßig und unverdrossen aus wie der politische Flüchtling. In jeder Zeitung gelang es uns, Nachrichten zu finden, die auf den unvermeidlichen und baldigen Ausbruch einer neuen Revolution klar hindeuteten. Es war gewiß, daß wir bald triumphierend in das Vaterland zurückkehren und dann als die Vorkämpfer und Märtyrer unserer siegreichen Sache die Helden des Tages sein würden.“
Tatsächlich sollte Schurz bald in das Vaterland zurückkehren, aber nicht triumphierend, sondern still, heimlich und leise …
„Das unglückliche Schicksal meines Freundes Kinkel erregte mein Mitgefühl in so hohem Grade, daß ich einem Ruf um Hilfe, der an mich erging, nicht widerstehen konnte.“
Carl Schurz
Im Februar 1850 habe er einen Brief von Johanna Kinkel erhalten, schreibt Carl Schulz in seinen Erinnerungen: „In brennenden Farben schilderte sie mir die entsetzliche Lage ihres Mannes und den Jammer der Familie.“ Die Preußen hatten Gottfried Kinkel bei den Kämpfen in Baden 1849 gefangengenommen und zu lebenslanger Festungshaft verurteilt. Nun saß Schurz‘ einstiger Professor in Naugard in Pommern im Zuchthaus. Außerdem stand ihm wegen des Marschs zum Siegburger Zeughaus auch noch ein Prozess in Köln bevor.
In Bonn war die Komponistin Johanna Kinkel Tag und Nacht damit beschäftigt, Mittel und Wege zur Befreiung ihres Mannes zu finden. „Was not tue, sei ein Freund, der Mut, Ausdauer und Geschick habe, und der seine ganze Kraft dem Befreiungswerk widmen wolle, bis es gelungen sei“, zitiert Schurz ihren Brief. Er ließ sich nicht lange bitten und schmiedete einen Plan.
Als erstes bat er seinen Vetter Heribert Jüssen in Lind bei Köln, sich einen Pass ausstellen zu lassen und ihm diesen zu schicken. Mitte März 1850 verschwand Schurz aus Zürich. Mit den Papieren des Vetters reiste er unter anderem nach Köln – eine Befreiung seines Freundes während des Prozesses im April 1850 erschien ihm allerdings zu riskant. Zwar wurde Kinkel wegen des Marschs nach Siegburg überraschend freigesprochen, zur Verbüßung seiner anderen Strafe aber ins Zuchthaus in Berlin-Spandau gebracht.
Im August 1850 reiste Schurz nach Berlin und begann mit den Vorbereitungen. Er freundete sich mit dem Gastwirt Krüger in Spandau an und nahm Kontakt zu verschiedenen Zuchthauswärtern auf, die er zu bestechen versuchte. Sie willigten zwar ein, Kinkel besseres Essen und Briefe zukommen zu lassen, kamen aber für eine Befreiungsaktion nicht infrage. Schließlich fand Schurz einen Mann namens Georg Brune, der bereit war, sich an der Befreiung zu beteiligen. „Es ist eine Gottesschande, daß ein so gelehrter und tüchtiger Herr unter gemeinen Hallunken im Zuchthause sitzt“, zitiert Carl Schurz den Gefängniswärter in seinen Lebenserinnerungen.
Schurz bot Brune eine große Summe, die Johanna Kinkel im Freundeskreis aufgetrieben hatte, und bereitete die anschließende Flucht mit Pferden von Berlin an die Ostsee vor. Geplant war, dass Brune Kinkel in der Nacht vom 5. auf den 6. November aus seiner Zelle befreien sollte. Doch der Versuch scheiterte – der Zellenschlüssel hing nicht wie gewohnt in der Revierstube, weil ein Aufseher ihn versehentlich mit nach Hause genommen hatte.
„Es ist eine etwas halsbrecherische Geschichte. Von der Dachluke bis auf die Straße mag’s wohl sechzig Fuß sein. Aber wenn der Herr Professor Mut dazu hat, so glaube ich, daß es gehen wird.“
Georg Brune, Gefängniswärter
Für die folgende Nacht entwarf Brune einen neuen Plan. Da er im obersten Stockwerk des Zuchthauses Dienst haben würde, könne er Kinkel dorthin bringen und dann mit einem Seil aus einer Dachluke ablassen. Dies sei allerdings „eine etwas halsbrecherische Geschichte“, zitiert Schurz den Wärter. Doch die Aktion gelang: Mit vom Seil aufgeschürften Händen landete Gottfried Kinkel auf der Straße, wo Carl Schurz ihn entgegennahm: „Mit wenigen Sprüngen war ich zur Stelle. Jetzt faßte ich ihn an; es war mein Freund, und da stand er lebendig auf seinen Füßen. ‚Das ist eine kühne Tat!‘ war das erste Wort, das er mir sagte.“
Die beiden Männer wurden von einem Freund mit einem Pferdegespann nach Strelitz gefahren. Am nächsten Tag ging es weiter nach Rostock. Dort hatte sich der Fabrikant Ernst Brockelmann bereit erklärt, sie auf einem seiner Schiffe nach England zu bringen. Am 17. November 1850 gingen Kinkel und Schurz an Bord des Segelschiffs „Kleine Anna“ und erreichten nach zehn Tagen den Hafen von Edinburgh.
„Das Glück ist uns günstig gewesen und hat die Kühnheit des Wagnisses gerechtfertigt.“
Carl Schurz, Brief an seine Eltern, November 1850
Noch auf dem Schiff schrieb Carl Schurz einen Brief an seine Eltern, in dem er sich für sein monatelanges Schweigen entschuldigte und die Befreiungsaktion bestätigte, ohne Details zu nennen. Auch Gottfried Kinkel schrieb an die Eltern Schurz in Bonn und lobte seinen Freund in den höchsten Tönen: „Karl hat eine Treue bewiesen an mir, die ich ihm selber schwerlich jemals abverdienen kann; sein Muth, seine Ausdauer und Klugheit haben ein Wunderwerk vollendet, und ich verdanke ihm in vollem Sinne die Rettung meines Lebens.“
Während sich Gottfried und Johanna Kinkel mit ihren vier Kindern 1851 in London niederließen, entschied sich Schurz für Paris, in der Hoffnung, hier seine historischen Studien fortsetzen zu können. Die politischen Verhältnisse in der Französischen Republik waren allerdings desillusionierend. Der Nationalversammlung fehle es nicht „an hochtönenden Reden und an Szenen stürmischer, ja tumultuarischer Aufregung“, doch sei dies „vielfach weniger einem ernsten Gedankenaustausch bedeutender Männer ähnlich als einer würdelosen Zänkerei eitler Phrasendrescher“, so sein Eindruck.
Auch die französischen Sitten schockierten ihn. Nach einem Maskenball im Opernhaus konstatierte er „sittliche Fäulnis“ und „schamloseste Schaustellung“: „Männer und Frauen, von denen einige in der Wut des Tanzes ihre Kleider von Schulter und Brust abgerissen hatten, gebärdeten sich wie Rasende.“
„Man glaubte, ich sei eben im Begriff, die Regierung von Frankreich umzustürzen. Man fand aber, daß die Franzosen das allein könnten und ließ mich heute wieder frei.“
Carl Schurz, Brief an seine Eltern, 2. Juni 1851
Ende Mai 1851 wurde Carl Schurz von einem Polizeiagenten auf offener Straße festgenommen und vier Tage lang auf einer Wache eingesperrt, ohne dass man ihm Gründe dafür nannte. Außerdem durchsuchte die Polizei sein Zimmer. Schließlich teilte der Präfekt ihm mit, es liege zwar keine Anklage gegen ihn vor, doch wünsche die Regierung, dass er das Land verlasse. „Die Ursache meiner Verhaftung wurde mir erst später klar“, schrieb Schurz später: „Louis Napoleon hatte schon längst die Vorbereitungen zu dem Staatstreich begonnen, der die republikanische Regierungsform aus dem Wege räumen und ihn selbst in den Besitz monarchischer Gewalt bringen sollte.“
„Die unreinen Vokale und die Zischlaute, ja der ganze Klang und Tonfall der englischen Sprache fielen mir so unmusikalisch, so widerlich ins Ohr, daß ich dachte, eine solche Sprache würde ich niemals erlernen.“
Carl Schurz
Mitte Juni 1851 siedelte Schurz nach London über, wo sich die Kinkels inzwischen eingelebt hatten: Gottfried arbeitete als Lehrer, Johanna gab Musikunterricht. Die Verdienstmöglichkeiten für Carl Schurz waren begrenzt, weil er erst noch Englisch lernen musste. Im Gegensatz zum Französischen gefiel ihm diese Sprache zunächst überhaupt nicht, sondern fiel ihm vielmehr „widerlich ins Ohr“.
Umso erstaunlicher war, dass Schurz den Plan fasste, nach Amerika auszuwandern. Auslöser war der Staatsstreich von Louis Napoleon im Dezember 1851. Schurz war klar: „Alle revolutionären Bestrebungen, die sich an die Erhebung von 1848 knüpften, waren nun hoffnungslos; eine Periode entschiedener und allgemeiner Reaktion stand uns bevor.“ Er hatte das „öde und entnervende“ Flüchtlingsleben satt, wollte „eine geregelte Lebenstätigkeit“ und „etwas Wirkliches, wahrhaft Wertvolles“ zum Wohle der Menschheit leisten. In England fühlte er sich als Fremder. Amerika schien ihm wesentlich besser geeignet: „Es ist eine neue Welt, eine freie Welt, eine Welt großer Ideen und Zwecke. In dieser Welt gibt’s wohl für mich eine neue Heimat.“
„Wenn ich nicht der Bürger eines freien Deutschlands sein kann, so möchte ich wenigstens Bürger des freien Amerika sein.“
Carl Schurz, Brief an Adolph Meyer, 19. April 1852
Der lateinische Spruch „Ubi libertas, ibi patria“ (Wo Freiheit ist, da ist meine Heimat) aus Schurz‘ Lebenserinnerungen ist seither unzählige Male als sein „Lebensmotto“ zitiert worden. Sehr bekannt ist auch sein Satz „Wenn ich nicht der Bürger eines freien Deutschlands sein kann, so möchte ich wenigstens Bürger des freien Amerika sein.“ Er findet sich in einem Brief vom 19. April 1852 an Heinrich Adolph Meyer – seinen zukünftigen Schwager. Denn Carl Schurz hatte in London inzwischen die 18-jährige Margarethe Meyer aus Hamburg kennengelernt, und die beiden wollten heiraten.
In seinem Brief an Meyer, einen Hamburger Fabrikanten, der seit dem Tod der Eltern Margarethes Vormund war, versuchte Carl Schurz, seinen revolutionären Hintergrund herunterzuspielen („Was meine Vergangenheit betrifft, so kann ich mich kurz fassen“) und stattdessen die rosigen Aussichten in den USA zu betonen. Margarethes älterer Bruder stimmte der Heirat schließlich trotz Bedenken zu.
Am 6. Juli 1852 heirateten Carl Schurz und Margarethe Meyer in London. Und im August bestiegen sie in Portsmouth ein Schiff, das sie nach New York brachte.